Aktivitäten

Der frisierte Gleichheitssatz

Der Männerzopf eines Wehrdienstleistenden muss ab – selbst wenn Soldatinnen lange Haare tragen dürfen. Das entschied der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts im Dezember des letzten Jahres. Nun sind auch die Gründe der Entscheidung verfügbar. Nachdem das Truppendienstgericht Süd 2004 den so genannten Haarerlass für „schlechterdings unvertretbar“ hielt und das Bundesverwaltungsgericht 2006 bei Polizisten gepflegte lange Haare nicht mehr als „nonkonformistisch“ einstufte, war ich gespannt, wie der Leipziger Senat (zwei Richterinnen und ein Richter) den Haarerlass überhaupt noch rechtfertigen kann.

Das entscheidende Argument des Senats ist, dass es sich bei der Ausnahme vom Verbot, lange Haare zu tragen, um eine Frauenfördermaßnahme nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes und § 1 Abs. 1 S. 2 Bundesgleichstellungsgesetz handelt (Rn. 66). Männliche Soldaten hätten keinen Anspruch darauf, dass diese Ausnahme auf sie erstreckt wird. Intuitiv leuchtet mir das nicht ein, gesellschaftlich wie verfassungsrechtlich. Aber warum genau nicht?

Kuriose Körperästhetik

Körperästhetische Vorschriften in der Bundeswehr sind immer für Kuriosa gut. „Zivilisten“ erscheinen diese sprachlich wie inhaltlich aus einem anderen gesellschaftlichen Universum eingeflogen. Einige Beispiele aus der in diesem Februar aktualisierten Dienstvorschrift:

„Sehhilfen (auch Sonnenbrillen) sind in Farbe und Form dezent zu halten.“

„Tunnel im Ohrläppchen sind nur zulässig, wenn sie durch eine hautfarbene Abdeckung bis zu einem Durchmesser von 15 mm (1-Cent-Münze) vollständig abgedeckt werden.“

„Will sich der Soldat einen Bart wachsen lassen, muss er dies während seines Urlaubs tun.“

Die Dienstvorschrift begründet die Einschränkungen so:

„Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr … bestimmen durch ihr Auftreten in Uniform und ihr korrektes Aussehen das Bild der Bundeswehr in der Öffentlichkeit und das Bild Deutschlands im Ausland. Deshalb muss dort die Freiheit zur individuellen Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes gegenüber der sichtbaren Einbindung in die militärische Gemeinschaft zurücktreten.“

„Da unverändert große Teile der Bevölkerung aus dem Erscheinungsbild der Soldatinnen und Soldaten Rückschlüsse auf die militärische Disziplin und damit auf die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr ziehen, sind der Teilhabe an modischen Entwicklungen Grenzen gesetzt.“

(Fast immer) Verboten: Differenzierungen von Frau und Mann unter dem Grundgesetz

Das erscheint nicht unvernünftig. Wer in der Bundeswehr Dienst leistet, muss in Kauf nehmen, sich ästhetisch zurückzuhalten und ergo sich auch dem (aktuellen) gesellschaftlichen Mainstream zu beugen. Aber da ist noch das Grundgesetz, dessen Normen die Bundeswehr zu beachten hat. Rechtlich löst die Rechtsprechung  das Problem vor allem mit einem weiten Spielraum der Bundeswehr, bei Eingriffen in die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) die äußere Einheitlichkeit der Truppe zu gewährleisten. Vor den kategorisch formulierten Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG bleiben Ungleichbehandlungen von Frau und Mann aber problematisch (von intersexuellen Soldaten mal abgesehen).

Zwar ist einiges, sagen wir: fast alles in der Dogmatik von Art. 3 GG umstritten. Es steht jedoch (rechtlich) fest, dass staatliche Differenzierungen zwischen Frau und Mann in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen zulässig sind.  Regelungen, die an das Geschlecht anknüpfen, sind nur mit dem Grundgesetz vereinbar, „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind“. Das Wachsenlassen und Tragen der Haare zählt – das sollte evident sein – nicht dazu (anders, aber sich auf veraltete Rechtsprechung stützend hier). Das Diktum „Lange Haare nur für Frauen“ fußt auf einem gesellschaftlichen konstruierten Geschlechterunterschied. Damit bleibt nur noch eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht, wie das Förderungsgebot des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG.

Danach sind geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen zulässig, um für tatsächliche Gleichberechtigung zu sorgen und gesellschaftliche Nachteile von Frauen gegenüber Männern auszugleichen.  Zu solchen Fördermaßnahmen zählen (unter bestimmten unionsrechtlich beeinflussten Bedingungen) Frauen-Quoten. Frauenfördermaßnahmen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht uneingeschränkt möglich: So muss eineVerknüpfung zwischen dem Nachteil für Frauen und der Fördermaßnahme bestehen. Auch sieht Karlsruhe Regelungen kritisch, die die überkommene Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern eher verfestigen als überwinden. Das entspricht auch der völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, stereotypen Geschlechterrollen entgegenzuwirken (Art. 5 lit. a CEDAW).

Gender Mainstreaming zu wörtlich genommen – die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts

Wie überzeugend ist nun die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts? Zunächst mag es nicht sofort einsichtig sein, die Ausnahme vom Langhaarverbot für Frauen als Fördermaßnahme zu begreifen. Förderprogramme für Frauen in der Bundeswehr oder beispielsweise Gewaltpräventionsprogramme, die nur Frauen offen stehen, entsprächen eher dem gewohnten Bild einer Fördermaßnahme. Sieht man – wie das Bundesverwaltungsgericht (Rn. 68) – schon den niedrigen Anteil von Frauen in der Bundeswehr als einen gesellschaftlichen Nachteil der Frauen bzw. als noch nicht durchgesetzte Gleichberechtigung, können Maßnahmen, die diesen Nachteil auszugleichen helfen, mit Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG gerechtfertigt werden. Die Ausnahme vom Haarerlass für Frauen soll den Soldatenberuf attraktiver machen/halten.

Das leuchtet jedenfalls negativ ein: Würden Frauen gezwungen werden, ihre Haare bei Eintritt in die Bundeswehr abzuschneiden, könnte dies – bei derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen – einige Frauen von einer Bundeswehrkarriere abhalten. Es handelt sich also um eine Frauenabschreckverhinderungsmaßnahme, die der Angleichung des Frauen-Mann-Verhältnisses in der Bundeswehr dient.

Was verwundert darüber hinaus? Normalerweise entsprechen sich Nachteilsausgleich und Männerausschluss: Wenn eine Frau wegen einer Quotenregelung bevorzugt wird, kommt ein Mann nicht zum Zug. Auf eine Frauenförderprofessur wird ein Mann nicht berufen. Ein Frauen-Trainingsprogramm kann ein Mann nicht in Anspruch nehmen.

Beim Haarerlass ist dies anders. Eine Frau, die wegen der Regelung nicht vom Beruf in der Bundeswehr abgeschreckt wird, verdrängt keinen Mann (mit langen Haaren). Die Regelung führt nur mittelbar zu einer Ungleichbehandlung, die für die Förderung bzw. Abschreckungsverhinderung nicht notwendig ist.  UnterVerhältnismäßigkeitsgesichtspunkten gäbe es eine Maßnahme, die genauso wenigFrauen abschreckte und Männer und Frauen gleichbehandelt: Männer ebenfalls (dezente) lange Haare tragen zu lassen.

Das Bundesverwaltungsgericht kontert damit, dass männliche Soldaten eine positive Maßnahme verlangen und will damit wohl die Dogmatik für Freiheits- auf Gleichheitsgrundrechte übertragen (s. auch das Südafrikanische Verfassungsgericht,Rn. 47). Nicht ohne Grund wird der Verstoß gegen Art. 3 GG im Rahmen einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG geprüft. Das Bundesverwaltungsgericht fordert in einer Art Abwägung, dass, um den Anspruch auf Gleichbehandlung der Männer zu bejahen, das Gewicht der Gleichbehandlung dem Förderzweck entsprechen muss (Rn. 71). Das überzeugt jedoch nicht, weil der Anspruch, gleichbehandelt zu werden, bereits in Art. 3 GG enthalten ist. Eine andere Frage ist die der Rechtsfolgen, wenn eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung ausgesprochen wird: man kann die „Begünstigung“ für alle abschaffen (dies wird unter anderen Vorzeichen tatsächlichgefordert) oder die „Begünstigung“ auf alle erstrecken. Letzteres scheint die beiden Sätze von Art. 3 Abs. 2 GG am ehesten zu versöhnen.

Denn die isolierte Frauenfördermaßnahme ist unmittelbar mit einer Verfestigung von stereotypen Geschlechterbildern verknüpft: Frauen tragen lange Haare, Männer kurze (s. eine ähnliche Argumentation des EGMR im militärischen Kontext, Rn. 141). Dies geht an der Mainstream-Gesellschaft vorbei und scheint mir dem Ziel von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG zu widersprechen.

Rechtsvergleichung um Haaresbreite, äh, -länge

Spannend ist an der Entscheidungsbegründung auch, wie das Bundesverwaltungsgericht rechtsvergleichend argumentiert. Weil sich noch keine Erwartungshaltung gegenüber dem Erscheinungsbild von Soldatinnen bilden konnte, käme  eine „gewisse orientierende Wirkung … Regelungen in Staaten mit einer vergleichbaren Staats- und Gesellschaftsordnung zu, die den Zugang zu ihren Streitkräften schon seit längerer Zeit für Frauen geöffnet haben“ (Rn. 70). Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich auf die Mehrzahl dieser Staaten, die ähnlich Haare differenzieren wie die Bundeswehr.

Die Argumentation verdeutlicht die Relativität des rechtsvergleichenden Arguments; es kommt darauf an, was man vergleicht. Das Bundesverwaltungsgericht beschreibt dies nicht genau und auch nicht, wie es recherchiert hat und welche Staaten es (außer den USA) meint. Man könnte hier auf unisex-langhaartolerierende Armeen wie die Dänemarks und der Schweiz verweisen; deren Gesellschaftsordnung dürfte von der deutschen auch nicht allzu weit entfernt sein.

Jedenfalls verschwimmt die Überzeugungskraft des quantitativ-komparativen Arguments, wenn man den Fokus verstellt. Die meisten Staaten, die Frauen nicht nur dienen, sondern auch kämpfen lassen, haben dies – wie Deutschland – als generelle Regelung erst um das Ende des 20. Jahrhunderts herum getan. Und schon verblasst die orientierende Wirkung „erfahrener“ Gesellschaften. Vielmehr könnte die deutsche Bundeswehr mit gutem Beispiel vorangehen. In den USA findet – jedenfalls bezogen auf Religion – bereits ein Umdenken statt.

Sidecuts wachsen lassen!

In der neuen Dienstvorschrift der Bundeswehr sind unter anderem die derzeit weit verbreiteten, aber auffälligen Sidecuts verboten. Überträgt man die Metapher auf die Haarregelung der Bundeswehr, ist die eine Seite des Kopfes künstlich kurz gehalten, während die andere frei sprießen kann. Es ist trotz der Side- wie Undercut-Mode Zeit, den für einige unfreiwilligen Sidecut wachsen zu lassen und das überflüssige Langhaarverbot abzuschaffen. Die in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts häufig bemühte gesellschaftliche Erwartungshaltung – hält man sie für entscheidungserheblich – akzeptiert längst langhaarige männliche Soldaten.

P.S.: Bei anderen Ausnahmen für Frauen könnte man das anders sehen: Frauen dürfen dezente Ohrstecker einsetzen und „dekorative Kosmetik“ auftragen – Männer nicht. Klagen auf Gleichberechtigung sind hier aber unwahrscheinlich.

Ich danke Johanna Bergann, Sarah Schadendorf und Jörn Reinhardt für Diskussionen.

 

ZUERST AUF JUWISSBLOG ERSCHIENEN