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Niemand hat die Absicht die EU nicht zu verlassen

Der einseitige Rücktritt vom Brexit nach der Freigabe durch den EuGH

Der EuGH hat dem Brexit-Drama ein alternatives Ende mit glücklichem Ausgang geschrieben – Art. 50 EUV lässt es zu, die Erklärung der Austrittsabsicht einseitig zurückzunehmen –, das wohl nicht (yet, who really knows?) aufgeführt werden wird. Fantastisch, dass die klagenden schottischen Abgeordneten des UK Parliament jetzt besser über die Folgen und den Kontext ihrer – zunächst verhinderten – Abstimmung über das Austrittsabkommen Bescheid wissen! Die Entscheidung des EuGH ist für das Schicksal des Brexitverfahrens nicht zwingend relevant, indes für künftige Austrittserklärungen unionsrechtlich plausibel sowie rechtspolitisch tragfähig. Wie immer und erst recht bei knapp begründeten Entscheidungen bleiben Fragen offen, insbesondere zu den Grenzen des Revokationsrechts.

Hard Brexit is Coming

Das Wightman-Urteil des EuGH-Plenums – mit unter drei Monaten wohl das schnellste Vorlageverfahren aller Zeiten – erreichte am Montag das Licht der Öffentlichkeit noch rechtzeitig vor der – nun verschobenen – Abstimmung im britischen Parlament über das Austrittsabkommen des Vereinigten Königreichs mit der EU. Die Debatte über diese Abstimmung dürfte das Luxemburger Urteil in seiner Bedeutung schnell übertönen – mit dem gescheiterten (fraktionsinternen) Misstrauensvotum gegen Premierministerin May ist dies auf andere Weise bereits geschehen. Nicht nur ein vor dem Aufschub erwartetes No zum Austrittsabkommen, sondern auch die Verlegung selbst spült Vorschläge an die Oberfläche, um einen Hard Brexit zu verhindern – der Ruf nach einem Nachverhandeln mit der EU ist schon fast verklungen; andere noch weniger realistische Optionen wären Neuwahlen sowie ein neues Referendum. Nichts scheint vollkommen ausgeschlossen.

Allerdings erscheint gerade die Rücknahme der Austrittserklärung nicht wahrscheinlich. Warum sollten Naysayer sowie andere Brexitbefürworter zusammenkommen und entweder einen Rückzieher oder ein Referendum beschließen, welches einen Brexit ganz verhindern könnte? Gleichwohl dürfte das Wightman-Urteil Remainern einen Hoffnungsschimmer bescheren sowie es womöglich noch wahrscheinlicher machen, dass das Austrittsabkommen bei einer ernsthaften parlamentarischen Abstimmung (vor dem 21. Januar 2019) abgelehnt wird. Denn einige Abgeordnete, z.B. die schottischen Antragsteller im Ausgangsverfahren, können sich jetzt auf den Standpunkt stellen, dass sie sich gar nicht zwischen einem Hard Brexit und dem ungeliebten Austrittsabkommen entscheiden müssten: tertium datur!

Damit rücken entgegen dem Willen vieler Beteiligter ein Hard Brexit oder höchstens eine Verlängerung der Austrittsfrist nach Art. 50 Abs. 3 EUV näher, um wenigstens eine – wenn alles schief läuft – abgespeckte Variante des Austrittsabkommens nachzuverhandeln. Da für eine zweitbeste Lösung die aktive Zustimmung von politischen Playern (auf Seiten der EU wie im britischen Parlament) notwendig und diese sich aber in nahezu unaufgebbaren Positionen vergraben haben, könnte der Brexit leicht den denkbar schlechtesten Ausgang nehmen.

Entscheiden unter Unbestimmtheit

Dieses verzweifelte, schmutzige Ringen um einen rettenden Schlag in den verknäuelten Brexit-Knoten spielt sich weitgehend außerhalb des juristischen Begründungskokons ab. Und in dessen Naturzustand sind die Brownschen Moleküle zunächst zufällig verteilt. Denn die Worte des Art. 50 EUV enthalten explizit nichts, jedenfalls nichts Eindeutiges zu einer Rücknahme der Austrittserklärung. Die Lösung des EuGH daher für unhaltbar zu halten, ist unhaltbar. Es handelt sich schlicht um eine Entscheidung des bislang Unentschiedenen (Wightman, Rn. 48) durch eine dazu ermächtigte Institution. Mehr oder weniger gute Gründe sprechen dafür, ein Recht auf Rücknahme der Austrittserklärung in Art. 50 EUV hineinzulesen, sowie mehr oder weniger gute Gründe dagegen (s. Schlussfolgerung hier, S. 23). Der harte Gegensatz zwischen Verhandlungs- und Entscheidungsfrist (s. Art. 50 Abs. 3 EUV) erscheint mir ebenfalls nicht den „wahren“ Kern von Art. 50 EUV zu treffen – der auszudeutende Text des gesamten Art. 50 EUV schließt es nun einmal nicht aus, beide Fristzwecke gleichzeitig zu verfolgen, und verhält sich ebenso wenig eindeutig zum Verhältnis der beiden (s. auch Wightman, Rn. 56, sowie Art. 56 Abs. 2 WVK, der wie Art. 50 Abs. 2 EUV von einer „Absicht“ spricht, in Verbindung mit Art. 68 WVK).

Souveränität und Integration Hand in Hand – Unionsbürgerschaft am Rand

Aufgrund seiner privilegierten Sprechstellung des EuGH sind die Gegenstimmen in die Position gedrängt, die Argumente des EuGH für seine Entscheidung zu entkräften. Und dies scheint mir ein „uphill battle“. Fünf Mal betont der EuGH in seiner Begründung die – während des Austrittsverfahrens anhaltende – Souveränität der Entscheidung eines Mitgliedstaats, die EU zu verlassen, auch als Argument für die Möglichkeit der Rücknahme, die in dieser Souveränität eingeschlossen ist (Wightman, Rn. 57, 59; s. auch Rn. 63, 65). Geschickt verknüpft der EuGH die Achtung des abstrakten Werts der Demokratie (Art. 2 EUV) mit der Achtung vor der demokratisch hergestellten Entscheidung in einem Mitgliedstaat, die Union – doch – nicht zu verlassen (Wightman, Rn. 62, dann 65, dann 66, dann 67). Lediglich zusätzlich erwähnt der Gerichtshof, dass die Nonrevokabilität dem Integrationsziel einer immer engeren Union widersprechen würde. Die Gegenauffassung müsste diese Souveränität relativieren (den reuigen Mitgliedstaat auf das aufwändige Beitrittsverfahren verweisen) und sich gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts stellen.

Zu diesen bzw. ihrem Einfluss auf die Interpretation des Unionsrechts äußert sich der Gerichtshof jedenfalls nicht eindeutig, insbesondere der Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention: Art. 68 WVK bestätige allein das unionsautonom erzielte Auslegungsergebnis (Wightman, Rn. 70). Dass er an einer anderen Stelle (Wightman, Rn. 45) die Autonomie des Unionsrechts auch vor Völkerrecht hervorhebt, lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass die WVK jedenfalls nicht (als Ausdruck von Völkergewohnheitsrecht) unmittelbar zur Interpretation des Unionsrechts herangezogen wird (sehr ausführlich freilich als „Inspirationsquelle“ in den Schlussanträgen von Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona, Rn. 63ff.) .

Zu begrüßen ist, dass der EuGH erhebliche (nur tatsächliche?) Auswirkungen auf Rechte von Unionsbürger*innen u.a. des austrittswilligen Mitglieds wenigstens „erwähnt“ (Wightman, Rn. 64; s. auch EuG, Shindler, Rn. 47). Allerdings fehlen die Rechte aus der Unionsbürgerschaft wiederum, wenn der Gerichtshof feststellt, dass die Ablehnung eines Rücknahmerechts (nur?) dem Ziel einer immer engeren Union und den Werten der Freiheit und Demokratie widersprechen würde (Rn. 67). Wünschenswert wäre es gewesen, hätte der EuGH das Gewicht der Unionsbürgerschaft ausdrücklich als Argument pro Rücknahmerecht verwendet.

Formelle und materielle Grenzen des Revokationsrechts

Unweigerlich begibt sich die Position des EuGH in Untiefen, da zwar das Verfahren des Austritts in Art. 50 EUV niedergelegt ist, das Unionsrecht indes zu den konkreten Bedingungen des Rücktritts vom Austritt naturgemäß schweigt. Seine Lösung heißt zunächst actus contrarius, d.h. der Rücktritt richtet sich nach den Bedingungen von Art. 50 Abs. 1 EUV (Wightman, Rn. 58) – er ist, bis der Mitgliedstaat tatsächlich nicht mehr Mitglied der EU ist, einseitig möglich, erfolgt im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften und muss (in Schriftform) unmissverständlich und unbedingt zum Ausdruck gebracht werden (Wightman,Rn. 74).

Diese Formbedingungen ersetzen (wohl) eine Verfahrens- oder gar Inhaltskontrolle, die andere Beteiligte ins Spiel gebracht haben, entweder über eine Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten analog Art. 50 Abs. 3 EUV (s. Wightman, Rn. 61) oder über eine aus der Unionstreue fließende Missbrauchsausnahme, wie es der Generalanwalt vorige Woche vorschlug (Rn. 148ff.).

Einige Kommentare überlegten, ob der EuGH eine weitere (vom EuGH überprüfbare) unionsrechtliche Verfahrensvoraussetzung insofern aufgestellt hat, als dass verfassungsrechtlichen Vorschriften im Rahmen der Herstellung der Rücknahmeentscheidung eingehalten werden müssten. Dafür könnte sprechen, dass der EuGH zusätzlich zu den verfassungsrechtlichen Vorschriften (Wortlaut des Art. 50 Abs. 1 EUV) den „demokratischen Prozess“ (Wightman, Rn. 66, 67) auf nationaler Ebene erwähnt. Allerdings kommt dieser Gedanken lediglich im Zusammenhang mit der Achtung des Unionsrechts vor einer demokratischen Entscheidung eines Mitgliedstaats zum Ausdruck. Daraus lässt sich keine zusätzliche Voraussetzung zur Ausübung des Rücknahmerechts ableiten. Ob Theresa May aufgrund der Ermächtigung zur Notifizierung des Austrittswillens durch den EU Withdrawal Act 2017 die Rücknahme rechtswirksam erklären kann oder es dazu doch – dem actus-contrarius-Gedanken folgend – wie bei dem Beschluss über den Austritt selbst einer parlamentarischen Zustimmung bedarf, kontrollieren allein die britischen Institutionen. Dies steht im Einklang mit der vom Gerichtshof herausgehobenen Bedeutung der Souveränität der Mitgliedstaaten sowie einer aktuellen Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union (EuG, Shindler, Rn. 58).

Die sehr weitgehend ins Ermessen der Mitgliedstaaten gestellte Entscheidung, die eigene Austrittserklärung zurückzunehmen, bedeutet freilich nicht, dass sie diese Möglichkeit ohne Risiko ausnutzen könnten. Die politischen Kosten wären für eine Regierung (s. Brexit!) immens. Eine Rücknahme ist in aller Regel nur bei einem Regierungswechsel oder einer Volksbefragung zu erwarten, nicht als strategisch eingesetztes Druckmittel, um günstige Austrittsbedingungen zu verhandeln. Dass in Extremfällen der EuGH möglicherweise doch mit einer Missbrauchskontrolle einschreiten könnte, steht auf einem anderen Blatt.

Ausblick in den Abgrund

Die neuesten Signale aus dem Vereinigten Königreich sind nicht gerade ermutigend. Dem EuGH ist es allerdings weitgehend gelungen, durch das politische Schlachtfeld hindurch zu manövrieren. Dass die Abstimmung, vor der der Gerichtshof rechtzeitig urteilen wollte und geurteilt hat, verschoben wurde, kann ihm nicht angelastet werden. Gerade seine Terminierung vermochte es, dem EuGH Respekt zu verschaffen und eine politische Instrumentalisierung zu vermeiden. Die gleichzeitige Betonung der Souveränität mitgliedstaatlicher Freiheit zur und von der EU-Mitgliedschaft sowie der Integrationszugewandtheit des Revokationsrechts probiert – in einer prekären Lage des Unionsrechts generell – den Ausgleich herzustellen zwischen den Interessen am Zusammenhalten (in) der EU einerseits sowie am wohlfeilen Bekräftigen nationaler Selbstbestimmung andererseits (Karlsruhe freut‘s).

Eine Spannung bleibt; dies illustriert nicht zuletzt das Ringen um ein Austrittsabkommen, das alle Seiten befriedigen soll. Ein Ausweg aus den politischen Dilemmata kann das Recht nicht (immer) weisen. Auf eine Rückkehr zur (politischen) Vernunft sollten alle jedenfalls im Interesse der vielen betroffenen Unionsbürger*innen dringen. Wenn schon das sog. „Backstop“-Protokoll des Austrittsabkommens (Art. 2 Abs. 1) „höchste Anstrengungen“ verspricht, um die Anwendung der Zollunion auf Großbritannien über die Übergangsphase hinaus zu verhindern, ist allerdings fraglich, ob kosmetische „Klarstellungen“ der Politischen Erklärung zu den künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem VK genügen werden (s. insbes. Rn. 19).

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