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Politische „Bewegung an der frischen Luft“ – Versammlungsermöglichung im gesperrten öffentlichen Raum (mit Micha Plöse)

Wenn die Demokratie von Kompromissen leben soll, muss zuvor um politische Alternativen gestritten werden. Da in der Krisenbewältigung vieles zur Einheit strebt, ist besonders die Zivilgesellschaft in all ihrer Vielfältigkeit gefordert, sich auch mit kritischen Positionen Gehör zu verschaffen. Die jüngsten Anti-Corona-Regelungen der Bundesländer drohen aber, ein wichtiges Ventil politischer Meinungskundgabe, die Versammlung unter freiem Himmel (Art. 8 Abs. 2 GG), zu verschließen. Sie sind mit dem Grundgesetz teilweise nicht vereinbar oder bedürfen jedenfalls in ihrer Anwendung einer verfassungskonformen Auslegung. Die Behörden sollten beim Umgang mit Versammlungen ihr Ermessen pragmatisch und versammlungsermöglichend ausüben. Demokratischer Meinungskampf muss auch weiterhin auf die Straße getragen (s. Fraport-Urteil des BVerfG) werden können.

In diesem ersten Teil widmen wir uns dem Stellenwert und den Gewährleistungsbedingungen der Versammlungsfreiheit und bewerten die versammlungsbezogenen Corona-Regelungen der Bundesländer. Der zweite Teil ist praxisorientierter und versucht aufzuzeigen, wie Versammlungen pragmatisch ermöglicht werden können.

Performativität und Autonomie der Versammlungsfreiheit

Unter den derzeitigen Ausgangsbeschränkungen verlagert sich ein Teil der früheren Kommunikation unter Anwesenden in die digitale Sphäre. Für Demonstrationen gelingt dies nicht. Nicht nur erstreckt die Rechtsprechung den Schutz von Art. 8 GG nicht auf digitale Versammlungen (z.B. hier und hier); zudem bleibt ihr Leitbild die unmittelbare physische Präsenz. Die Teilnehmenden treten sich einander und der Öffentlichkeit wahrnehmbar gegenüber. Ohne monetär unterstützte Viralität ist letztere Dimension im öffentlichen Raum 2.0 schwer realisierbar. Digitale Hilfsmittel können Versammlungen auf digitale Protestformen somit weder vollständig transferieren noch reduzieren (für eine Übergangszeit anders VG Dresden, 30. März 2020, 6 L 212/20, S. 13).

Wesentliches Merkmal der von Art. 8 Abs. 1 GG gewährleisteten Versammlungsfreiheit ist weiterhin der staatsfreie, unreglementierte Charakter von Protestereignissen. Um in der überfordernden Vielfalt der Medienlandschaft Aufmerksamkeit zu erregen und Inhalte transportieren zu können, müssen Proteste gesehen, beachtet und als unbequem, besser noch störend empfunden werden. Staatsfrei sind Proteste nur, wenn ihre Organisation und Durchführung nicht von Versammlungsbehörden und Polizei (z.B. durch einschnürende Auflagen oder einschüchternde Polizeipräsenz) überformt werden und sie die Chance erhalten, dem Adressaten ihrer Kritik gegenüber zu treten, ohne von diesem vereinnahmt zu werden. Staatsfreiheit ist daher ohne ein Mindestmaß an Staatsferne nicht zu haben (vgl. Plöse, CILIP 118/119 2019). Insoweit verdreht das VG Dresden (30. März 2020, 6 L 212/20, S. 12) die Versammlungsautonomie, wenn es einer Demonstration „mit Abstand“ unterstellt, ihren eigenen Zweck nicht erfüllen zu können.

Kartographie normativer Versammlungsverhinderung

Anders als die herausgehobene Stellung der Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vermuten lässt, schrumpft die Versammlungsfreiheit in den aktuellen Corona-Regelungen der Bundesländer zur vernachlässigbaren Größe. Lässt man die Bedenken zur formellen Rechtmäßigkeit (flächendeckende Verbote per Allgemeinverfügung – VG München; aA VG Dresden, 30. März 2020, 6 L 212/20, S. 8f.; Rechtsgrundlage – Art. 8 Abs. 2 GG! – im Infektionsschutzgesetz, z.B. bei Kießling und Klafki) großzügig außer Betracht, lassen sich in materieller Hinsicht folgende Versammlungsverhinderungstypen unterscheiden:

Am weitesten gehen totale Versammlungsverbote, die keine Ausnahmen im Einzelfall zulassen. Ja, Sie haben sich nicht verlesen – in diesen Bundesländern dürfen Demonstrationen – zumindest für einige Wochen – nicht stattfinden. Zum Teil werden Versammlungen ausdrücklich verboten, wie in Thüringen (§ 3 Abs. 1); die Unmöglichkeit, eine Erlaubnis für eine Demonstration zu erlangen, ergibt sich daraus, dass die Ausnahmen vom Verbot – von Fällen des Art. 20 Abs. 4 GG abgesehen – nicht auf Versammlungen passen können (z.B. § 3 Abs. 2: „für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung … bestimmt sind“) und dass der vorherige Erlaubnisvorbehalt auf Erlassebene durch die neue Verordnung wohl aufgehoben ist.

Am häufigsten begegnen Versammlungswilligen in Deutschland derzeit implizite Totalverbote (in Baden-Württemberg: § 3 Abs. 1 und 6, Brandenburg: § 1 und 11, Hamburg: Nr. 3, Hessen: § 1 Abs. 2, Mecklenburg-Vorpommern: § 1a Abs. 2 und 3, Niedersachsen: § 2 Abs. 2, Rheinland-Pfalz: § 3 und 4, Sachsen: Nr. 1 und im Saarland: Nr. 1 und 3): Diese Regelungen verbieten Demonstrationen nicht direkt, sondern Zusammenkünfte in der Öffentlichkeit, die über ein Treffen von zwei Personen hinausgehen. Dies läuft aber faktisch auf ein Versammlungsverbot hinaus (s. VG Hannover, S. 3). Ausgeglichen wird dieses Verbot nicht durch die Möglichkeit, eine Erlaubnis im Einzelfall, ggf. unter Auflagen zu erlangen. Es fehlen schlicht Befreiungsmöglichkeiten für Versammlungen – jeglicher Art und Größe.

Allen Totalvorbehalten ist gemeinsam, dass sie für eine gewisse Dauer Demonstrationen gänzlich verhindern. Dies kann zu einer Zeit, in der – unter Einhaltung von Abstand – Mobilität und auch Pressearbeit (s. § 4 Nds.VO) im öffentlichen Raum funktionieren, nicht verfassungsgemäß sein und tastet womöglich gar den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit an. Denn ein Ausweichen auf andere Kundgaben des Protests (z.B. im Netz oder vom Balkon) wird der Performativität der Versammlungsfreiheit nicht gerecht. Neuere Protestformen kombinieren beides.

Etwas freigiebiger sind Bundesländer, in denen die zuständigen Behörden Versammlungen im Einzelfall gestatten können. Die expliziten Erlaubnisvorbehalte zu den präventiven Verboten (jedenfalls für Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen) schützen die Versammlungsfreiheit, indem sie die Behörden auf die besondere (verfassungsrechtliche) Bedeutung von Demonstrationen zumindest hinweisen. Sachsen-Anhalt (§ 1 Abs. 5) und Schleswig-Holstein (Nr. 8) gebieten eine individuelle Verhältnismäßigkeitsprüfung für Demonstrationen; Nordrhein-Westfalen (§ 11 Abs. 2 Satz 1) erhebt die Einhaltung von Infektionsschutzauflagen zur Bedingung; ähnlich spricht die bayerische Regelung (§ 1 Abs. 1 Satz 3) von infektionsschutzrechtlicher Vertretbarkeit von Ausnahmegenehmigungen. Die Berliner Verordnung (§ 1 Abs. 7) kombiniert die anderen Varianten (infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit, besonders gelagerter Einzelfall) und setzt zusätzlich die Höchstgrenze von 20 Teilnehmenden fest.

Noch ein Sandkorn der Liberalität leuchtet im Norden der Republik: In Bremen sind Versammlungen weiterhin erlaubt. Sie können jedoch „zum Zwecke der Verhütung und Bekämpfung des Corona-Virus“ verboten bzw. mit Auflagen versehen werden (Nr. 2 des Bremer Corona-Erlasses v. 23. März 2020 nimmt Versammlungen vom Verbot von Zusammenkünften aus). Der Bremer Erlass gibt damit im Wesentlichen die bestehende (verfassungsgemäße) Rechtslage wieder.

Alle Bundesländer geben – bis auf Bremen – die unmissverständliche Direktive vor: Im Zweifel keine Versammlungen. Dies spiegelt sich auch in der bisherigen, sehr jungen Praxis wider (vgl. VG Hannover, Beschluss vom 27. März 2020VG Dresden, Beschluss vom 30. März 2020, 6 L 212/20). Art. 8 GG verlangt jedoch von staatlichen Stellen (Art. 1 Abs. 3 GG), bei der Beurteilung des Einzelfalls, den physisch-präsenten Ausdruck politischer Meinungen weitestgehend zu ermöglichen, soweit dies für die hier konkurrierenden Belange des Gesundheitsschutzes vertretbar erscheint – was im Übrigen für das Leitbild präsumtiver Erlaubnis spricht.

Teil II

Individuelle Bewegung an der frischen Luft senkt das Infektionsrisiko. Das gilt als Schulmeinung seit Rudolf Virchows Studien zur Flecktyphus-Epidemie in Oberschlesien von 1848. Kollektive Bewegung im politischen Raum „wirkt nicht nur dem Bewußtsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit entgegen“, es „liegt letztlich auch deshalb im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse, weil sich im Kräfteparallelogramm der politischen Willensbildung im allgemeinen erst dann eine relativ richtige Resultante herausbilden kann, wenn alle Vektoren einigermaßen kräftig entwickelt sind.“ Das gilt für die Versammlungsfreiheit wie für die freiheitlich-demokratische Grundordnung seit dem Brokdorf-Beschluss des BVerfG von 1985.

Abwägungsausfälle vermeiden

Versammlungsverbote kommen daher nur als letztes Mittel in Betracht und dürfen „nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen.“ Ohne Zweifel dienen Maßnahmen zur Verhinderung von Infektionen dem Schutz des Lebens und der Gesundheit nicht nur der Teilnehmenden und Polizeibeamt*innen, sondern – nach allem, was wir wissen – auch der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit einem der Versammlungsfreiheit gegenüber gleich oder sogar höher zu gewichtendem Rechtsgut. Nichtsdestotrotz müssen Behörden nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz ein ausgewogenes Maß zwischen den konfligierenden Interessen finden. Hierfür stehen ihnen Auflagen und Beschränkungen bis hin zu Verboten im Einzelfall zur Verfügung, wenn diese geeignet, erforderlich und angemessen sind, eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben Einzelner oder dem Überleben einer Vielzahl von Menschen abzuwehren.

Dabei dürfte zu berücksichtigen sein, dass bereits die Geeignetheit eines absoluten Versammlungsverbotes fraglich erscheint, jedenfalls aber durch Auflagen mildere Mittel zur Vermeidung von Kontakten zur Verfügung stehen und Verbote dann nicht erforderlich sind. Bei der Verhältnismäßigkeit wiegt schließlich gerade die Radikalität der exekutiven und legislativen Maßnahmen so enorm, dass eine kritische und sichtbare Auseinandersetzung umso wichtiger erscheint, um bei einem „Auf-Sicht-Fahren“ der Regierung Maß und Kurs zu halten.

Vor diesem Hintergrund läuft der Beschluss des VG Hannover vom 27. März 2020 auf einen Abwägungsausfall hinaus. Auch wenn das Verwaltungsgericht konzedierte, dass dieser Tage sicheres Wissen schwer zu haben ist, beschränkte es seine Güterabwägung letztlich auf ein Argument, das nicht verlieren kann: Infektionsrisiko besteht immer – „Das überragende Schutzgut der menschlichen Gesundheit und des Lebens ist gegenüber der temporären Aussetzung des Versammlungsrechts des Antragstellers ohne Zweifel als höherrangig einzustufen.“ (S. 6 f.). Mehr Platz nimmt die Abwägung in der Entscheidung des VG Dresden vom 30. März 2020 ein. Es räumt sogar ein, dass die Möglichkeit zur Teilhabe am politischen Diskurs „gerade in Zeiten der Krise für die demokratische Gesellschaft unabdingbar sei“ (S. 11 f.), verweist den Antragsteller mit Hinweis auf die vorübergehende Dauer der Maßnahmen und „andere Möglichkeiten […], in den politischen Diskurs zu treten“, jedoch vor den heimischen PC.

Versammlungsermöglichende Ermessensausübung

In Bundesländern, in denen Demonstrationen per Verordnung untersagt sind, egal ob explizit oder implizit, ist den Behörden bei ihrer Ermessensausübung wenig Raum gegeben: Jeder Verstoß gegen den jeweiligen Normtext wäre eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit in Gestalt der geschriebenen Rechtsordnung. In Ländern mit expliziten Verboten können Behörden sogar ein Verbot im Sinne von § 15 Abs. 4 VersG annehmen, auch wenn Teile der Literatur die Anwendung des Absatzes 4 auf solche nach § 15 Abs. 1 oder 2 VersG beschränken. Die Polizei wird sich zur Auflösung verbotener Versammlungen verpflichtet sehen. Generelle landesweite Versammlungsverbote durch Allgemeinverfügungen sind rechtsstaatlich bedenklich (aA VG Dresden, 30. März 2020, 6 L 212/20, S. 8f.), verschließen aber ebenfalls verfassungsrechtlich gefordertes Ermessen.

In Ländern mit impliziten Verboten ließe sich argumentieren, dass Versammlungen im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG vom Regelungsprogramm nicht erfasst sind und der Versammlungsbehörde daher nach § 15 Abs. 1 VersG ein Ermessensspielraum verbleibt. Dieser wäre jedoch im Hinblick auf die Zielsetzung der Verbots-Norm, Zusammenkünfte von Menschen in der Öffentlichkeit zu unterbinden, weitgehend beschränkt. Von daher erscheint eine verfassungskonforme Auslegung hier nur schwer möglich. Entsprechende Verbotsnormen ohne Erlaubnisvorbehalt für Versammlungen im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG sind daher rechtswidrig [s. Teil 1] und müssen für nichtig erklärt werden. Hierüber hat jedoch die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu entscheiden (die bisherigen Entscheidungen stimmen skeptisch, ob die Gerichte ihrer rechtsstaatlichen Kontrollfunktion nachkommen). Bei aller Umstrittenheit der Frage, ob Behörden im Hinblick auf ihre Verpflichtung auf Recht und Gesetz zum Vollzug nichtiger untergesetzlicher Normen verpflichtet sein können, bliebe die normanwendende Behörde – pragmatisch betrachtet – darauf beschränkt, gegenüber dem Normgeber zu insistieren, die rechtswidrige Norm aufzuheben.

Mehr Spielraum verbleibt den Behörden in Bundesländern mit Erlaubnisvorbehalt. Dabei ist bereits dieser selbst für Spontan- und Eilversammlungen mit Blick auf die grundrechtliche Gewährleistung, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen versammeln zu dürfen, einer verfassungskonformen Reduktion zu unterziehen. Bleibt die Erlaubnisbehörde auf einen entsprechenden Antrag inaktiv, erfolgt dieser erst kurzfristig oder unterbleibt er ganz, sollte die Versammlung auch ohne normativ vorausgesetzte Genehmigung geduldet werden, wenn sie infektionsverhindernde Sicherheitsmaßnahmen einhält – § 15 Abs. 3, nicht Abs. 4 VersG findet Anwendung.

Es ist einsichtig, dass sich die Versammlungsfreiheit derzeit nur unter Einschränkungen verwirklichen lässt; Massendemonstrationen beispielsweise schüfen eine zu hohe Infektionsgefahr. Unter Auflagen ist die kollektive Meinungskundgabe auf der Straße dennoch realisierbar (anders VG Dresden, 30. März 2020, 6 L 212/20, S. 11). In Betracht kommen Abstandsgebote, ortsbezogene Beschränkungen der Teilnehmendenzahl oder ein getrennter An- und Abreiseweg. Auch Ortsverlegungen oder die Genehmigung einer Kundgebung statt des angemeldeten Aufzugs kann im Einzelfall angemessen sein. Protest muss sich jedoch dort artikulieren können, wo Öffentlichkeit ist, wo Gesellschaft und Politik sich begegnet oder ereignet, d.h. heute vor dem Parlament, auf der Straße, vor und in Grünanlagen; dort wo er auf Maßnahmen des Staates reagieren kann bzw. auf das, was staatliche Akteure gerade in Krisen ignorieren (Interessen von Minderheiten, Wohnungslose, Geflüchtete).

Als ebenso amüsant wie konsequent ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung im Auflagenbescheid der Stadt Flensburg vom 25. März 2020 zu würdigen, in der das Vermummen der Teilnehmenden in Form von Tüchern, Schals oder Atemschutzmasken erlaubt und „zur Verringerung der Ansteckungsgefahr begrüßt“ wird – natürlich nicht ohne auf das gesetzliche Vermummungsverbot zum Zwecke der Verhinderung von Identitätsfeststellungen und dessen Ordnungswidrigkeit hinzuweisen. Vermeintliche Normwidersprüche wie diese lassen sich bereits auf tatbestandlicher Ebene lösen – es fehlt am Verschleierungswillen.

Das Beispiel Bremen zeigt, dass eine großzügige Verfügungsregelung der Polizei selbst dann noch einen pragmatischen Umgang mit der Durchführung einer Kundgebung nach der Logik des Versammlungsgesetzes erlaubte, nachdem der eigentlich angemeldete Aufzug wegen Bedenken gegen die Einhaltung der Begrenzung der Teilnehmendenzahl von der Versammlungsbehörde verboten worden war.

Demgegenüber sah sich die Polizei in Berlin zur Auflösung einer nicht vorab genehmigten Kundgebung verpflichtet, weil die Anzahl der Teilnehmenden 20 Personen überstieg. Die entsprechende Höchstgrenze für Versammlungen in der Bundeshauptstadt ist nicht haltbar, weil sie den behördlichen Ermessensspielraum im Einzelfall zu weit beschränkt. Die Regelungen in §§ 1 Abs. 7 und 14 Abs. 3 lit. l VO mögen von einem Willen des Verordnungsgebers getragen sein, Versammlungen grundsätzlich zu ermöglichen. Die verordnete Höchstzahl schließt jedoch ohne überzeugenden Grund jede einzelfallgerechte Handhabe und dürfte die Beamt*innen vor Ort bei Hinzutreten der 21. Demonstrierenden zur individuellen Zugangsverweigerung oder Auflösung der Versammlung veranlassen. Das wäre unverhältnismäßig. Es ist auch völlig praxisfern. Wer sollte denn bei Hinzutreten von zwei Personen zu bereits 19 Versammelten entscheiden, wer bleiben darf und nach welchen Kriterien? Wahres Gespür für grundrechtssensible Pragmatik hätte die Berliner Polizei bewiesen, wenn sie den „Überzähligen“ einfach einen weiteren Versammlungsort nach dem Auffüllprinzip zugewiesen hätte – selbstverständlich in Ruf- und Hörweite zu den 20 anderen Protestierenden. Was wäre das beispielsweise für ein mächtiges Bild: Der Alexanderplatz voll von Menschen mit jeweils zwei Meter Abstand, die alle mit dem Fahrrad kommen?

#StayatMove

Bei alledem – den neuen, hektisch formulierten Regelungen und der improvisierten Praxis – stört vor allem das generelle Misstrauen in die von Art. 8 Abs. 1 GG geschützte staatsferne Selbstorganisation der Versammlung. Warum trauen Behörden den Menschen nicht zu, (zunächst) selbst auf ihren Schutz zu achten?

BEITRAG (MIT MICHA PLÖSE VERFASST) ZUERST AUF JUWISSBLOG (TEIL I UND II) ERSCHIENEN.