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Zahlendämmerung

Gerichte legen das Recht nach normativen Kriterien aus und wenden es an, sogar bei Verfassungsgerichten in zigtausend Fällen. Bislang bewertete die kommentierende Rechtswissenschaft, ob die Gerichte richtig lagen. Ein relativ neuer Trend – jedenfalls in der hiesigen Rechtswissenschaft – will nicht bewerten, sondern erfasst, wie aktivistisch, wiemoralisch, wie wortlautfixiert ein Gericht urteilt. Aber auch dies war und ist ein Anspruch vieler in der Rechtswissenschaft – nur verließ man sich in der Vergangenheit auf das individuelle Expertenurteil. Der neue Genosse der Rechtswissenschaft ist nun die Zahl: Z.B. sollen uns die Werte 0,7, 0,2, 0,5 sagen, wie es um die aktivistische Einstellung eines Gerichts oder die Interpretationsoffenheit einer Verfassung bestellt ist. Woher kommt das Bedürfnis nach der Zahl?

Die statistische Verlockung

Vielleicht ist es die mittlerweile riesige Fallzahl bei nahezu allen Gerichten, die eine zuverlässige Übersicht erschwert und ein systematisches Urteilen mit dem Zweifel des Anekdotischen belegt? Zahlen und Graphen dagegen irren und lügen nicht. Vielleicht liegt es auch schlicht daran, dass es möglich geworden ist – digitale Volltexte in Massen laden dazu ein, mit Statistiksoftware nach Parametern durchforstet zu werden. Hinzu kommt: In der Rechtsvergleichung versprechen Zahlen eine allen Rechts- und Verfassungsordnungen gemeinsame Sprache. Sie könnten eine Alternative zu – eher unmöglichen – Versuchen bieten, aus den Begriffen einer Einzelrechtsordnung eine juridische Metasprache abzuleiten.

Conreason – ein verfassungsvergleichendes Pionierprojekt

All dies schwang mit, als gestern András Jakab im Rahmen einer Rechtskulturen-Lecture das am MPI Heidelberg ansässige Conreason-Projekt an der Humboldt-Universität vorstellte. Kurz gesagt geht es darum, empirisch und vergleichend umfassende Erkenntnisse über verfassungsgerichtliche Argumentation zu sammeln. Jakab legte einen Arbeitsbericht der auf fünf Jahre angelegten Forschung vor, der noch keine endgültigen Ergebnisse präsentieren konnte, aber dazu einlud, die Methodik zu debattieren.

Das anspruchsvolle Projekt hat drei Teile: Zum einen wird der Argumentationsstil von 25 Verfassungsgerichten (im weiten Sinne) untersucht – dazu wählen Experten deren 40 wichtigste Entscheidungen aus und analysieren diese auf das Vorkommen von 40 Parametern wie der Verweis auf den Zweck einer Verfassungsnorm. Die die Zahlen zusammenfassenden und kontextualisierenden Länderberichte stehen größtenteils noch aus – s. aber den Länderbericht von Jakab zu Ungarn. Dann werden Urteilsbegründungen auf im Zeitablauf auf Stichworte geprüft – hier kann man an der sich ändernden Verteilung von Worten ablesen, wie sich verfassungsrechtliche Einstellungen verändern. Schließlich holt Conreason die Meinung „autochthoner“ Experten darüber ein, wie sie die Einstellung „ihrer“ Höchst- oder Verfassungsgerichte zur europäischen Integration bewerten.

Conreason ist ein gewaltiges Pionierprojekt, das zeigen wird, was an statistisch inspirierter Rechtswissenschaft möglich ist. Zahlenvergleiche zwischen Rechtsordnungen und Epochen werden wissenschaftliche Intuitionen bestätigen oder Überraschungen zu Tage fördern. Dennoch ist noch genügend Raum für Ergänzung: „a map of what’s happening“ wollen Jakab und seine Mitstreiter zunächst liefern.

Trügerische Zahlen

Aber auch Kritik und Korrektur werden sich austoben können. Denn deutlich wurde in der Diskussion mindestens eines: Mit der Neutralität der Zahl ist es nicht weit her. Bevor eine Zahl zustande kommt, werden viele, auch implizite Werturteile getroffen: Nach den Worten von Jakab haben sein Team, um im Diskurs der Community ernst genommen zu werden, vor allem die klassischen Vergleichsrechtsordnungen (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA) aufgenommen und durch einige nichteuropäische ergänzt. Die meisten bleiben also draußen. Der Vorwurf des Atlanto-Eurozentrismus liegt da nicht fern und kam auch zur Sprache.

Auch die Auswahl der 40 wichtigsten Urteile einer Verfassungsordnung ist sehr voraussetzungshaft: Sind die Urteile vom Beginn einer Ordnung mit den aktuellen, sind staatsorganisationsrechtliche Materien zwischen Ordnungen überhaupt vergleichbar? Jakab erwähnte eine weitere normative Einschränkung: Die Verfassungsexperten des Projekts müssen nicht nur in der eigenen Verfassungsordnung bewandert sein, sondern zudem die Sprache der westlichen Rechtskultur beherrschen, um sich untereinander austauschen zu können. Stellen die Kriterien, die erst die Zahlen liefern, eine Homogenität her, die möglicherweise gar nicht existiert? Pessimisten werden hier angreifen, Optimisten sich produktive Verfälschungen erhoffen. Eine skrupulöse Selbstreflexion der Empirie ist aber in jedem Fall geboten.

Lauert in dieser Reflexion ein kommender Methodenstreit? In der Veranstaltung gestern war vor allem Neugierde zu hören und nur mittelbar eine leise Skepsis zu spüren. Die Spaltung in der Politikwissenschaft zeigt aber an, dass Statistik und normative Interpretation sich nicht so leicht versöhnen lassen.

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